Schriften

 

 

„Ändere die Hirnmöblierung!…“

 

Ermanno Wolf-Ferrari hat ein kleines, jedoch sehr hintergründiges Schrifttum hinterlassen, das uns tiefen Einblick in das für ihn Wesenhafte der Musik erlaubt. In den APHORISMEN und BETRACHTUNGEN widerspricht er den vielen gängigen Denkmustern von Musikwissenschaftlern, Kritikern oder ausübenden Musikern und zeigt auch immer wieder auf, dass Begrifflichkeit und Kategorisierung dem Wesen der Kunst entgegenstehen. Auch erfahren wir, dass es keineswegs nur einen richtigen Weg der Ausführung eines Musikwerkes gibt. Amüsant und wahr, seine Kommentare über die Eigenschaften guter – und schlechter Dirigenten! 

 


 

Ermanno Wolf-Ferrari

 

APHORISMEN

 

(Ausschnitt) 

 

 

   Wenn Herakles seine Brillen geputzt hätte, so hätte er sich vielleicht die Mühe ersparen können, den Augiasstall zu putzen. Ändere die Hirnmöblierung und du änderst damit deine ganze Welt!

   Schönheit ist nicht die Summe ihrer Elemente, sondern deren Beziehungen untereinander: unsagbar!

   Das Vergnügen ist oft eine Mauer, die uns von der Schönheit trennt. Vergnügen ermüdet bald, Schönheit nie. Das Schöne ist oft auch angenehm; aber das Angenehme ist nicht selbst das Schöne.

   Es ist für die Kunst gleichgültig, ob der Verdi des „Falstaff“ 80 Jahre alt war und der Rossini des „Barbier“ 24, der Michelangelo der Peterskuppel 80 und jener des „David“ 25: nur die Schönheit gilt!

   Der Einfall hat nicht bloß mit dem Motiv zu tun, sondern ist ebenso nötig für die sogenannte thematische Arbeit und für die berüchtigte „Durchführung“. Was die Melodie im kleinen ist, ist die Gesamtform im großen. Es gibt keine gleichgültigen Strecken, keinen „Kitt“!

   Die Befolgung der Regeln garantiert keine Schönheit, das Nichtbefolgen derselben aber ebensowenig.

   Man nennt eine Musik dann unproblematisch, wenn sie nicht die Verrückte spielt, um damit zu sagen, dass nicht viel daran ist.

   Politische Großtaten in Musik zu besingen ist möglich, sobald sie göttlich gesehen werden. (Beispiel: Die Ratswahlkantate von Joh. Seb. Bach). Gelegenheitskunst zu verachten ist dumm, wenn man bedenkt, dass Shakespeares „Sturm“ und „Sommernachtstraum“ Gelegenheitswerke sind. Wenn nur die Gelegenheit das Ewige hervorruft!

   Warum sprechen Shakespeare und Dante, die zeitlich so weit von einander lebten, wenn sie von Musik reden, so, dass man meint, sie redeten von ähnlichen Eindrücken unter einander und auch jenen ähnlich, die wir heute, bei unserer um so viel späteren Musik, empfangen? Weil sie das identische Unendliche durch jene damaligen Musiken trotz der verschiedenen Fleischwerdungen fühlten: La dolce sinfonia di Paradiso (Die süße Paradiessymphonie – Dante)!

   Es ist nicht wahr, dass das Schöne anfangs immer verkannt wird und somit das Missfallen ein Beweis des Wertes ist! Es ist sehr leicht, unverständlich zu schreiben! Sehr schwer hingegen: leicht zu schreiben, ohne Dummheiten zu sagen! Den Jungen würde ich raten, so zu schreiben, wie man ein Telegramm nach Amerika aufsetzt: Kurz, weil die Worte teuer sind, und klar, weil man verstanden sein will!

   Es gibt eine Art „Künstler“, die, anstatt ihre Seele durch Töne zu enthüllen, es wie die Tintenfische machen. Diese verschwinden hinter der schwarzen Flüssigkeit, die sie von sich geben; jene verstecken sich hinter dem dunklen Nebelschleier ihrer Töne.

   Die letzte Seite der V. Symphonie von Beethoven (lauter C-Dur-Akkorde) und die 300 Takte Es-Dur des „Rheingold“-Vorspiels – sind das „Fortschritte“? – Doch! – Fortschritt des modernen Orchesters im Vergleich zum Bach-Orchester? – Andere Seelen! – Man gewinnt auf der einen Seite und verliert auf der anderen. Der „kosmische“ Fortschritt ist dem Künstler nicht bewusst; denn er steckt ja drinnen! Man denkt nicht immer an die Kreisbewegung der Erde!

   Wagner ist immer noch das heutige Problem: man löst es nicht, wenn man ihn nicht leidenschaftlich studiert! Man versteht von den Dingen mehr, wenn man sie verteidigt, als wenn man sie bekämpft! Wer ewig den Staatsanwalt gegen alle Dinge spielt, tötet seine eigenen Intelligenz; weil er zuletzt zu verstehen sich überhaupt weigert!

   Wenn ich von Florenz spreche, habe ich nicht nötig dabei zu zeigen, dass ich auch von Chemie etwas verstehe… Dies sei den Künstlern gesagt, die gleich auf der ersten Seite alles zeigen wollen, was sie können. Liszt (wenn ich nicht irre) sagte einem, der ihn wegen seines Spieles bewunderte, es sei ganz leicht: man brauche nur den richtigen Finger im richtigen Augenblick auf die richtige Taste zu setzen. Komponieren ist noch leichter: man braucht nur die richtige Note im richtigen Augenblick zu setzen, – man erspart dabei den Finger.

   Es ist sehr bequem zu sagen: alles das nicht zu wollen, was man nicht kann: Melodie, Harmonie, Entwicklung, Wirkung, Schönheit (lauter „Romantik“)!

   Von Instrumentation wird heute zu viel geredet. Haut muß sie sein und nicht Kleid!

   Tonalität ist keine Meinungssache, ebenso wenig wie die Perspektive eine solche ist. Tonart heißt: alle möglichen Akkorde in ihrer Beziehung auf einen zentralen Akkord aufzufassen, so wie in der Perspektive alle Linien in den Sichtpunkt zusammenlaufen. Wer in Dreiklängen gut zu denken vermag, kann alles.

   Es ist gefährlich, die Harmonien bloß als Kolorierungen der Melodie zu fühlen, so wie man Photographien koloriert. Die Harmonie ist wesentlicher Organismus, System. Dies ihre Realität!

   Der historische Begriff ist dem Künstler fremd und gehört dem Kritiker. Mann man sich einen Mozart vorstellen, der von sich sagte: „Ich bin ein Künstler aus dem Rokoko“?

   Die Träume, die Wünsche, das Unerreichbare, die Utopie – das sind Themata, die von der Kunst nicht zu trennen sind, da sie unmöglich nur das Vorhandene besingen kann. Kunst braucht unendliche Sehnsucht!

   Wenn Genies die belehren könnten, die keine sind (ich denke an die Briefe Verdis und die Schriften Wagners), so würden diese Briefe und diese Schriften unmöglich so wirkungslos geblieben sein!

   Ich glaube nicht, dass die Kritik in besseren Händen wäre, wenn sie nur durch Künstler ausgeübt würde. Die Geschichte beweist, dass diese sich selten gegenseitig verstanden haben. Wagner haßte Schumann und umgekehrt. Chopin wart nicht empfänglich für die Musik irgend eines Lebenden. Von den Toten liebte er Mozart und Bach, aber nicht Beethoven usw. usw. Die verschiedenen Temperamente sind oft unübersteigbare Schranken zwischen den Künstlern, die sie verhindern, die wesentliche Identität, nämlich die Genialität, zu bemerken. Die „Hirnmöblierung“ existiert eben auch bei den Künstlern, wenn sie sich nicht gerade im Gnadenzustand befinden. Im Allgemeinen befinden sie sich nur beim Schaffen in diesem!

   Für taube Seelen existiert die Schönheit der Musik nicht. Diese hören nur Noten, Klang, sonst nichts.

   Wenn die Augenlinse in sich selbst farbig wäre, so würde das Auge diese Farbe nicht sehen und alle anderen wären durch diese beeinflusst. So muß das Hirn durchsichtig und ungefärbt im Augenblick des Schaffens sein. Den gleichen Zustand des Herzens nennen die Inder: ein leeres Herz haben. Das bedeutet: dass nur ein leeres Herz (leer von Teilinteressen) sich ganz einem Augenblick hingeben kann und ihn damit zu einem höchsten zu schaffen vermag! 

 


 

Ermanno Wolf-Ferrari

 

BETRACHTUNGEN

 

 

 

A . Von der verderblichen Wirkung der falschen Begriffe

 

 Auch unter den Begriffen gibt es Unkraut. Das sind solche, die in der Zerstreutheit entstanden sind und in der Zerstreutheit wiederholt wurden. Sie haben langsam Wurzel gefaßt und brauchen den Gärtner, der sie herausreißt.
 Dann gibt es Worte, die früher richtige Begriffe ausdrückten; sie gingen verloren und wurden durch falsche ersetzt.

 

KÜNSTLER DER VORDESTEN LINIE (Artista d’avanguardia):

Unpassender Ausdruck und Vergleich, der uns den Künstler als Teilnehmer einer Gruppe verstehen läßt (was niemals wesenhaft der Fall sein kann). Und in erster Linie? Einer Schlacht? Gegen wen wird sie geführt? Wo ist der Feind?

 

KÜNSTLERISCHER KAMPF (Lotta artistica):

Wer ist zu vernichten? Etwa das Publikum? Das ist kein Feind! – Die Kritiker? Auch nicht. Diese sind jener Teil des Publikums, der schriftlich urteilt. – Also? Der Künstler hat nur einen Feind zu besiegen, und dieser ist in ihm selbst: Die Müdigkeit oder eine andere Schwäche, die ihn dazu verleiten möchte, einen Takt nicht zu verbessern, den er nach seinem Gewissen nicht für den richtigen an jener Stelle halten kann. Sobald er diesen inneren Feind besiegt hat, gibt es keinen anderen Kampf, noch kann es sonst einen geben – mit Ausnahme des berechtigten Kampfes gegen das Unkünstlerische.

 

MODERNE SENSIBILITÄT (Sensibilità moderna):

Modernität, falls sie Musik bezeichnen will, die nach der letzten Mode gemacht ist, ist ein Wort, das sich selbst verurteilt, weil es in Beziehung zur Kunst wesentlich nichts aussagt. Mit moderner Sensibilität will man manchmal eine größere Differenzierung – als jene in früheren Zeiten – beim Anhören von Musik bezeichnen.

Es ist eine Tatsache, dass die Musikgeschichte uns zeigt, wie harmonische Zusammensetzungen, die früher verboten waren, weil hart klingend, mit der Zeit durch die Übung und die Gewohnheit immer erträglicher empfunden wurden, bis sie zuletzt sogar wohlklingend wirkten. Man denke an die so gewöhnliche Dominant-Septime, die früher zu den Dissonanzen gerechnet wurde, während unserem Ohr heute sogar die None angenehm klingt.

Somit, wenn sich heute einer wegen allzu vieler Dissonanzen beklagt, hört er oft von manchen Künstlern sagen: „Habt Geduld, Ihr werdet Euch daran gewöhnen.“ Sachte: Das, woran man sich gewöhnt, bemerkt man gar nicht mehr“ – „An dem Tage, da wir an alles gewöhnt wären, würden wir tot sein“, sagt Hegel. – Ich hatte einen 80jährigen Onkel, über den wir Brüder als Kinder lachen mussten, wenn er sich den Mund mit Pfeffer vollstopfte, weil er es nicht mehr spürte. War das vielleicht seine „moderne Sensibilität“?!

Es ist wahrscheinlich, dass, wer zu Mozarts Zeiten über die berühmten Querstände in der Einleitung des C-Dur-Quartetts erschrak, eher über zu große als zu geringe Sensibilität verfügte. Im Übrigen aber hört man Musik zwar mit den Ohren, aber man versteht sie mit dem Hirn, das die einzelnen Sinneseindrücke erst sinnvoll verbindet. Einzeln genommen, hätten diese niemals einen Sinn: Nicht einmal die einfachste Melodie könnte man verstehen, wenn man die Noten einzeln, als unter sich beziehungslos, hören würde.

Wer Musik liebt, muß entgegen der unvermeidlichen Gewohnheit, die uns immer fühlloser und gleichgültiger macht, sich liebevoll üben, den einfachsten aller Akkorde immer wieder und mit der gleichen Frische wie zum erstenmal zu genießen. Es ist nicht wahr, dass die größten Meister (Wagner zum Beispiel) vor allem neue Klänge erfunden hätten: Ihre Hauptkraft war jene, die man die erneuernde nennen könnte, wodurch sie fähig wurden, uns die allereinfachsten harmonischen Beziehungen, also die Grundbeziehungen, als neu empfinden zu lassen, so dass es uns scheint, als ob wir sie zum erstenmal hörten in ihrer ursprünglichen Frische. Man denke an das A-Dur des Lohengrin-Vorspiels (ein A-Dur, das anders als jedes sonstige A-Dur zu sein scheint) und an die C-Dur-Glorie, die über die ganzen „Meistersinger“ leuchtet! – Wie der Dichter einen Morgen so fühlt, als wäre er der erste geschaffene Mensch am ersten Morgen der Schöpfung, so belebt der Musiker, der sich selbst mit jedem Augenblick erneuert, mit seiner immer neuen Seele das einfachste und (scheinbar) verbrauchteste aller klanglichen Elemente. Wirkliche Sensibilität ist weder alt noch modern, sie ist „Frucht von langem Studium und großer Liebe“ (Dante).

 

ALTMODISCH (Passatismo):

Mit diesem Wort versucht mancher, all das in der Kunst zu beschimpfen, was an die Frühlinge der Vergangenheit erinnern könnte. Wenn man die ganze Vergangenheit verurteilt, so verurteilt man alle existierende Musik!! Kann man das, wo sie schön ist? Das Schöne verurteilen heißt: Das Hässliche oder das Nichts lieben! Nur wer das Vorurteil, das Rezept, dem wirklichen Leben vorzieht, das immer frei ist, kann leben, ohne je ein Tonwerk bewundert zu haben, das, um da zu sein, schon vorher geschrieben sein musste, folglich aus der Vergangenheit stammte. Man muß nie eine existierende Musik geliebt haben, um das Wort altmodisch auf diese Art zu gebrauchen!

 

ÜBERWUNDEN (Sorpassato):

Mit diesem Wort beschimpfen die „Kühnen“ alle die Kunstwerke, die eigene Ahnen bekunden (so wie der es bekundet, der einen Stammbaum sein eigen nennt, der über seinen Großvater hinausgeht). Die „Kühnen“ wollen überhaupt keinen Vater gehabt haben. Die großen alten Meister sind untereinander alle verschieden: Aber zugleich sind sie Söhne des gleichen Vaters, der ewig ist: Man hört, dass sie mit verschiedenen Stimmen wie aus einer Seele reden. Es ist leichter, über die Unterschiede der Meister untereinander zu sprechen, als von dem, was sie gemeinsam haben: Dieses ist unsagbar, weil es das Wesen, nicht Fleischwerdung ist.

Einen „überwunden“ zu nennen, weil er an die Wesenheit erinnert, die er mit den Großen der Vergangenheit gemeinsam hat, ist Missachtung dieser und Beweis, dass man nur das Bastard-sein schätzt!

Um zu verstehen, muß man zuerst lieben können! Wer sich ernähren will, muß schlucken können. Wer nur ausspuckt, fastet und stirbt an Hunger. So wie wir kein Menschenfleisch essen, sondern etwas Fremderes, so müssen wir auch geistig das Fremde erst zu Unserem machen: Verdauen, sonst wird alles unverdaulich.

Wie oft habe ich sagen hören: „Wie veraltet ist doch diese Musik! Man kann sie nicht mehr hören!“ – Und gerade die Jüngeren, die sie doch weniger oft gehört haben, sind die Ungeduldigsten (und Unduldsamsten)! Die Musik bleibt, wie sie war – nicht sie ist veraltet. Wir haben uns geändert!

Manches erhält sich, manches nicht. Was sich nicht erhält, ist gerade das, was zu seiner Zeit der damaligen Mode am meisten huldigte. Was bestehen bleibt, ist das, was von Anfang an keiner Mode unterworfen war. Das Nackte bleibt, nicht der Frack. Das will sagen, dass die sicherste Art, Musik zu schreiben, die nicht dauert, die ist, sie nach der Mode zu schreiben. Je moderner, um so kurzlebiger!

 

FÜHRENDER KÜNSTLER (Caposcuola):

Diese Bezeichnung wäre richtig, wenn es außer führenden Künstlern auch geführte Künstler gäbe. Aber es ist nicht so. Die Schüler sind im allgemeinen nur Nachahmer und meistens nur vom Erfolg der Führenden angelockt. Was lässt sich nachahmen? Nur die Technik. Wen Instinkt führt, kann niemals zu Schaden kommen.

Wagner ist ein führender Künstler gewesen. Wo aber sind seine Schüler, die seiner wert waren? Lauter Verunglückte! Nicht einer ist am Leben geblieben! Als ob er sie alle verschlungen hätte! In Wahrheit war es nicht er, der sie verschlang: er wurde nicht ernstlich studiert und wurde dadurch missverstanden. Man diskutierte über ja oder nein wie in einem Parlament: oberflächlich im Ja und im Nein.

Auch Goldoni war ein führender Künstler. Doch – wo sind die Geführten? Wer hat von ihm wahrhaft gelernt? Warum wird er so wenig aufgeführt? Während doch jeder Goldoni-Abend ein bezaubernder Genuß ist und eine Überraschung dazu! – Aber: Goldoni klopft man (ebenso wie Haydn) wohlwollend mit der Hand auf die Schulter: „Papa Goldoni!“ „Papa Haydn!“ Vielleicht – weil sie – zu lächeln verstanden? Man muß nicht den Lakaien zulächeln. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Scherze nicht mit dem Sklaven, sonst zeigt er dir den H…n!“ – So wurden Goldoni und Haydn, weil sie ihre liebenswürdige Natur offen gezeigt haben, immer als Gutmütige behandelt, Tabatieren, Miniaturen, sie werden gemeinhin nicht unter die Größten gezählt. Und es scheint wirklich, als ob ohne eine schwere und einigermaßen wehtuende Seite kein Künstler je für wirklich groß gehalten wird! Nur mit Mozart, obwohl er keine Schwere hat, macht man eine Ausnahme. Wie es auch sei, mit oder ohne Schwere: Die führenden Männer sind immer alleine geblieben! Ihr Licht ging weit voran, und ihre Schüler wurden erst viel später einzelne Nachkommen.

 

DIE INNERE SCHAFFENSQUAL (Il tormento interiore):

Modeausdruck, mit dem, nicht ohne Selbstgefälligkeit, manche ihre Kunstschaffensarbeit bezeichnen. Ich denke mir, dass man beim Schaffen außer der Qual auch sonst noch etwas spürt. Für mein Teil möchte ich mich nicht so ausdrücken. Ich würde fürchten, dass ich mit einer Kunst, die Tochter der Qual wäre, schließlich auch andere quälen könnte! Ich kenne die Übung in der Konzentration, aber ohne Qual. Die Konzentration ruft den Einfall herbei, und wenn dieser kommt, so ist eine Freude geboren, nicht das Gegenteil. Durch diese Freude allein weiß ich, dass sich dann später auch die anderen freuen werden. Es ist mir unverständlich, was man für eine Genugtuung haben kann, sich als Märtyrer der eigenen freien Arbeit hinzustellen.

Nur dem Bequemen muß die Kraftaufwendung, die man braucht, um irgend etwas zu schaffen, als Qual vorkommen. Selbst wenn man sich auf eine Gestalt im Libretto oder Theaterstück so lange konzentriert, bis man ihre Schmerzen mit verspürt und wirklich mit ihr leidet, bis der Ausdruck dieses Schmerzes gefunden ist, selbst dann verursacht dieses lebendige Erblühen Freude.

 

B . Begriffe, die man erneuern soll

 

GENIALITÄT (Genialità):

Genialität ist für einen Künstler Pflicht. Wieso? Ist sie nicht eine Gottesgabe? Ja, aber man muß sie sich erobern! Alle genialen Künstler waren zugleich Menschen guten Willens. Keiner von ihnen war nicht zugleich auch ein großer Arbeiter. Bach wurde gefragt, wie er es gemacht habe, es so weit in der Kunst zu bringen. Er antwortete: „Ich war sehr fleißig. Seid Ihr ebenso fleißig, und Ihr werdet es genau so weit bringen!“

Die Wurzel „gen“ des Wortes Genialität findet sich auch in den Wörtern: generoso (großmütig, freigebig), generare (zeigen), ingenuo (naiv), genuino (echt) – lauter Begriffe, die es mit dem In-die-Welt-Setzen von etwas Lebendigem, das heißt Totalem, Einigem und Einfachen, zu tun haben, nicht mit einem mechanisch konstruierten Homunkulus. Komponieren (zusammensetzen) bedeutet nicht Schaffen. Der gute Wille, das heißt, der Wille, der gut ist, bringt uns in Beziehung mit dem wahren, tiefen Ich, dem Unendlichen in uns. Nur dann fängt es an zu sprechen, zu tönen, freigebig, großmütig, echt, naiv, von innen aus diktierend. Wie könnte man auch verlangen, dass andere das als Synthese empfinden könnten, was es nie gewesen ist, selbst nicht im Kopf desjenigen, der es in die Welt setzte? Das Zusammen-Setzen, Zusammen-Kleben von Noten nacheinander ist Mechanismus, nicht Kunst: Folge eines Willens, aber nicht eines guten Willens (das heißt, von Güte).

Wenn ich lehre, kümmere ich mich zuerst um die seelische Harmonie der Schüler, und dann erst um ihre geschriebenen Akkorde.

 

„Ein Mensch, der nicht Musik hat in sich selbst

Und nicht der Eintracht schöner Töne nachgibt,

Taugt zum Verräter, Meuterer und Räuber;

Sein Sinn ist dumpf und träge wie die Nacht

Und finster wie die Hölle sein Verlangen:

Nie traue solchem Kerl!“

(Shakespeare, „Kaufmann von Venedig“, Akt V, Szene 1.)

 

Eine Seele, die sich von der Bosheit beherrschen lässt, kann nicht singen. Man sehe, wie die bösen Charaktere in den Opern beinahe nie musikalisch gelungen sind. Wann singt Jago? Wenn er sich wenigstens gut stellt. Pizarro in „Fidelio“? Wenn sich die Kontrabässe auch noch so anstrengen, ihn furchtbar erscheinen zu lassen, die Bosheit selbst kommt nicht dabei heraus.

Don Juan? Dieser ist durch die Liebe bös, und diese seine Liebe, wenn noch so unvollkommen, rettet ihn musikalisch. – Die verschiedenen Mephistopheles? Auch hier bringt es die Musik nicht fertig, das Böse auszudrücken, nur das Absonderliche des Teuflischen, das Grauenhaft-Launige (Kaspar), das Närrische der Bosheit (sozusagen), aber nicht die Bosheit selbst drücken die Töne aus oder „das Leidende des Bösen“.

Das Böse ist negativ und lässt sich durch die lebendige Positivität der Musik nicht ausdrücken. Das Hässliche, das sein adäquater Ausdruck wäre, fällt aus der Kunst heraus.

 

ORIGINALITÄT (Originalità):

Je weniger man heute das Wort Genialität gebraucht, um so mehr spricht man von Originalität. Soviel ich weiß, sprach man in den vergangenen Jahrhunderten niemals davon. Vielleicht weil sie, wenn sie einmal da war, unbewußt entstand. Man suchte sie nicht, ja, es galt eher als anständig, seinen Lehrern, von denen man zu lernen sich nicht schämte, ähnlich zu sein als das Gegenteil. Heute sind wir so weit gekommen, dass originell beinahe gleichbedeutend mit “absonderlich“ geworden ist. Originell kommt vom lateinischen „orior“ (das heißt, ich werde geboren). Also auch hier dieselbe Idee, die in der Wurzel „gen“ enthalten ist: Das Lebendigste ist das Normalste, was es geben kann. Warum daher dieser Bestandteil der Absonderlichkeit?

Man muß nicht origineller sein wollen als der liebe Gott! Dieser begnügt sich, wenn Er es zulässt, dass ein Kind geboren wird, es mit zwei Augen und nicht mit drei oder einem zu gestalten; ebenso setzt Er ihm ins Gesicht nur eine Nase und einen Mund und nicht zwei. Trotzdem ist es von allen anderen Kindern verschieden. Ohne das wäre bloß das Monströse das Schöne.

Damit ich sagen kann, wie eine bestimmte Musik sei, muß ich vor allem bemerkt haben, dass sie überhaupt eine Musik ist und nicht nur ein Konglomerat von Tönen. Ist eine Musik wirklich schön, so lebt in ihr die Norm: Schönheit ist Normalität, obwohl in immer verschiedenen Verkörperungen. Somit ist Originalität ebenfalls Normalität.

Wenn eine Musik lebendig ist, das heißt schön, so beweist sie damit ihre Geburt aus einem lebendigen (totalen) Augenblick. Jeder Augenblick des Lebens selbst ist originäre, das heißt ursprünglich, gerade jetzt eben geboren, also absolut neu. Und seine Kreatur, jene Musik, kann nicht umhin, jene Ursprünglichkeit widerzuspiegeln. Besser wäre, man würde für Originalität immer Ursprünglichkeit sagen. Diese mag hie und da seltsam ausfallen: Aber nicht diese Seltsamkeit zählt, sondern, ganz im Gegenteil, das Orior, das Leben, das immer in sich selbst verschieden und doch Eines zugleich ist.

 

NEUHEIT (Novità):

An sich ein Begriff, der jenem der Originalität sehr ähnelt. Aber äußerlich nur auf das Kunstmittel Technik angewandt, ist er, vom Standpunkt der Kunst, nichtig und gefährlich. Wenn man alles von außen betrachtet, so wäre es nicht ausgeschlossen, dass eines schönen Tages ein Architekt ausrufen würde: Ich habe es satt, mit gewöhnlichen, rechteckigen Bausteinen zu bauen! Ich will einen originellen Baustein erfinden! – Oder ein Schriftsetzer: Genug mit dem Satzbau! Ich habe ihn dick! Die ewigen Kommatas, Schlusspunkte, Frage- und Ausrufungszeichen! Millionenweise hat man solche geschrieben! Neuheit! Neuheit! Neuheit! Neue Kommatas, neue Punkte brauchen wir!

Wie viele Kompositionsschüler und sogar „fertige“ Komponisten gibt es, die schon im fünften Takt beim Bandwurm angelangt sind! Die Neuheit um der Neuheit willen ist gar nichts wert! Wenn Schönheit vorhanden ist, so ist Neuheit – immer – schon dabei: genau soviel wie nötig, damit jene sie selbst sei. Neuheit ohne Schönheit ist einfach eine neue Hässlichkeit, und von der reden wir nicht.

Hier fällt uns ein Begriff oder, besser gesagt, ein Wort ein, das man heute oft zu hören bekommt: interessant! Was will man damit sagen, wenn es nicht bloß ein Mittel sein soll, um nichts zu sagen? Es bezieht sich immer auf die Technik und noch mehr auf die Pseudotechnik, das heißt: Auf jene Technik, die für sich kokettiert, nicht im Dienst eine wirklichen Musik steht, in der sie sich auflöst und verschwindet. Niemand wird, wenn er gerührt ist, zum Beispiel im letzten Akt der „Traviata“ ausrufen: Wie interessant! Ich glaube nicht, dass je ein Liebender einer Geliebten geschrieben hat: „Meine interessante Maria!“ –

Zugegeben: Wenn eine schöne Musik nicht interessieren würde, so würde man sie nicht anhören; aber sie mit diesem Ausdruck bezeichnen, das kann man nicht. Heute ist alles „interessant“, schön – nie; dieses Wort gebraucht man nicht mehr. Das Schlimme ist, dass, wenn man es gar nicht mehr gebraucht, auch das entsprechende Gefühl verschwinden könnte. Dann aber: Finis musicae!

 

C . Begriffe, die verloren gegangen sind

 

 

SCHÖNHEIT (Bellezza):

Aus dem Vorigen hat man vielleicht entnommen, daß es nicht übel wäre, wenn man dieses Wort wieder gebrauchen würde. Das einzige Wort, das, im einzelnen Urteil, keinen Beweis erlaubt, da es sich einzig auf jene »Musik der Musik« bezieht, von der Verdi spricht(*), daß man sie nie von ihrer Klang-Fleischwerdung lösen kann. Nur das Gefühl kann seine Existenz behaupten. Der Analyse entzieht es sich.

(*) Verdi schreibt 1871 in einem Brief an Arrivabene: „In der Musik gibt es etwas, das wichtiger ist als Melodie, wichtiger als die Harmonie. Es gibt die Musik!“

 

EINGEBUNG (Inspirazione):

Auch von dieser redet man nicht mehr. In unserer Zeit der technischen Wunder hat man ihren Begriff verloren. Ja, viele glauben, dass man die Kunst mit dem gleichen abstrakten Intellekt konstruieren könne wie eine mechanische Erfindung. Dieser Intellektualismus wird aus einem seelischen Zustand geboren, der dem genau entgegengesetzt ist, was man früher mit dem Wort „Eingebung“ bezeichnete. Die Kunst entsteht nicht aus scharfem, analytischem Suchen, sondern aus wundersamen Augenblicken, die aus extremen Besinnungen (Konzentration) erblühen. In jenen Augenblicken hört der Künstler wie durch einen raumlosen Punkt hindurch das Leben ganz und ungeteilt hindurchgehen und in diesem Hindurchgehen singen. Nur dieser totalen Stimme glaubt er. Denn – singt diese nicht, so fühlt er, dass er so oder auch so schreiben könnte; es wäre ja dann gleich. Jene Stimme aber sagt ihm: So ist’s, und nicht auch anders!

 

ROMANTIK (Romanticismo):

Diese warme und phantastische Art, das Leben zu fühlen, nicht mechanisch, sondern voll und lebendig, will man heute herabsetzen. Es wäre dann nur das fühllose Leben, das kalte, harte und trockene, zu loben. Die Romantik gebar früher die Liebe, die großen Leidenschaften. Was gedenkt heute die Antiromantik zu gebären? Etwa die Gleichgültigkeit?

 

DAS 19.JAHRHUNDERT (Il secolo XIX):

Es gibt eine Art Künstler, die über alles schimpfen, was man im großen 19.Jahrhundert künstlerisch geschaffen hat. Wie kann man die eigenen Väter beschimpfen und sie verleugnen? – Ob wir Gutes oder Schlechtes tun, es ist nicht anders möglich, als von ihnen auszugehen. Dante sagt, als er mit Homer, Horaz, Ovid, Lucian und Vergil zusammenkommt, nicht, er sei der erste eines neuen Geistes, sondern:

 

„Und noch wird mir zuteil viel größ’re Ehre,

Da sie in ihre Schar mich aufgenommen

Als sechsten bei so hoher Geistesnähe.“

 

Die Musik des 19.Jahrhunderts ist die einzige, die, wenigstens was das Beste von ihr anbelangt, in unserem Volk noch lebt. Nimmt man ihm diese weg, so ist das genau so, als würde man ihm die Musik überhaupt entreißen. Anstatt sie zu beschimpfen, wäre es viel besser, sie zu studieren! Und sie zu lieben, um sie studieren zu können. Ich gestehe, dass ich sogar für gewisse alte Formen unserer Oper eine Schwäche habe, die unseren Vätern und Großvätern gefielen, weil ich sie selbst in ihren Logen sehe, mit ihrer alten Eleganz angetan, leidenschaftlich jener Musik folgend, die damals neu war, selbst in jenen Formeln, die ihrer Zeit nicht verächtlich waren, sondern noch warm vom Glauben des betreffenden Komponisten erfüllt. Ich stelle mir die Liebesleidenschaften vor, die uns das Leben gegeben hat, und ich liebe ihre Art, sich hinzugeben an jenes, das uns heute vielleicht etwas eng und erstickend erscheinen mag. Aber für sie war es damals noch unendlich, so wie das gelebte Leben es immer ist.

Und ich gestehe, daß es mir nicht nötig erscheint, aus Liebe zu einer größeren und stärkeren Zukunft diese warmherzige Vergangenheit zu verachten, die sich in einem vielleicht etwas provinziellen Leben abspielte, das jedoch erfüllt von Duft war, den wir heute vor lauter Benzin nicht mehr spüren zu können uns einbilden. Und ich wiederhole, dass ich jene Musik durch die Liebe unserer Alten hindurch höre, die damals noch jung waren und noch fähig, sich zu verlieben (ob in Frauen oder Melodien ist gleich). Ich hüte mich, sie zu stören, und meine Seele schleicht sich auf Fußspitzen weg und begibt sich in eine Ecke, allein, um sich in diese eingebildeten Erinnerungen zu versenken.

 

 


 

 

Ermanno Wolf-Ferrari

 

Über Dirigenten

 

 

Zwei Typen schlechter Dirigenten und nur eine der guten. Müßte ich mit wenigen Worten die Erfahrungen beschreiben, die ich beim Anhören von Aufführungen eigener Musik machte (und ich glaube, dass über Prügel und Liebkosungen der am besten urteilen kann, der solche empfangen hat), so müsste ich sagen, dass die schlechten Dirigenten sich mir in zwei Typen gezeigt haben:

  1. Der Langweilige:

Das ist der Dirigent, für den sowohl Forte wie Piano allemal Mezzoforte bedeutet. Adagio wird bei ihm Andante und Presto ein mittleres Allegro. Alles möglichst gleichartig und von halbem Charakter. Furcht vor Kontrasten. Gesicht ohne Ausdruck, Gespräch ohne Erfindung.

Einem solchen, der mich während einer Probe im dunklen Theater durch sein Dirigieren zur Verzweiflung brachte, legte ich freundlich eine Hand auf die Schulter und gab ihm das Tempo durch den Druck eines Fingers an. Nur er konnte es merken. Der Schein war gewahrt. Eine Zeitlang ging es so ganz gut. Sobald aber der Druck des Fingers ausblieb, fing die Langeweile wieder an. Es war einer jener Dirigenten, die vor Beginn einer Probe zu äußern pflegen: „Meister, sagen Sie mir, bitte, alles frei heraus, damit ich alle Ihre Intentionen kennenlerne!“ (NB. Welche „Intentionen“ kann er meinen, außer denen, die in der Partitur notiert sind?!) – Also man sagt ihm alles – und er dirigiert, dass alles so einförmig wirkt wie eine unendliche Wüste. Es sind die begeisterten Genießer der Langeweile.

 

  1. Die „Genialen“

Diese sündigen auf umgekehrte Weise: Das Adagio wird zum Largo molto, das Allegro ein Prestissimo. Das Forte ist ihnen nie stark genug, das piano hört man nicht mehr. Sie fühlen das Werk nicht als Ganzes und zerreißen es dir in tausend wie närrisch gewordene Stückchen. Es sind Wesen, die sprungweise fühlen. Die Laune ist ihr Gesetz, und – sie sind stolz darauf! Auch diese äußern zu dir: „Sagen Sie mir, bitte, alles, was Sie mir zu sagen haben!“ – Wehe aber, wenn du mucksest! Sie sind dann fähig, den Taktstock hinzuwerfen. Du kennst deine Musik nicht wieder: sie scheint wie besoffen! Dieser Typus ist etwas seltener als der vorige, aber nicht weniger gefährlich!

 

  1. Die guten Dirigenten:

Über sie ist – leider – sehr wenig zu sagen. Denn sie spielen dir deine Musik so vor, wie du sie dir gedacht hast. Es ist kaum zu glauben, dass dies dann ein Höchstes ist und – so selten! Es ist nicht so, dass diese nicht untereinander verschieden wären. Der eine nimmt alles etwas lebhafter als der andere, aber – und in diesem Punkt sind die guten Dirigenten sich alle gleich: dass die Verhältnisse der Tempi zueinander die gleichen sind. So wird ein Gesicht, ob aus der Nähe oder aus der Ferne gesehen, immer das gleiche bleiben, weil die Proportionen sich nicht ändern. Hingegen entformen die schlechten Dirigenten die Gesichter so, wie es die verschiedenartig gewölbten Spiegel tun, denen man bei Volksfesten begegnet und die soviel zur Volksbelustigung beitragen wenn sich einer selbst darin abgespiegelt erblickt.